Gesundheitsapps auf Rezept – ein Modell für die Schweiz?

Digitale Gesundheitsanwendungen (kurz: DiGA) unterstützen Patient:innen bei der Behandlung von Erkrankungen oder dem Ausgleich von Beeinträchtigungen. Seit vier Jahren gibt es die digitalen Medizinprodukte in Deutschland nun schon auf Rezept. Welches Fazit zieht Deutschland aus der Aufnahme der DiGAs in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen? Und können wir für die Schweiz etwas lernen?

Julia Biller

17. September 2024

Hand im digitalen Umfeld
Mit digitalen Gesundheitsanwendungen hast du deine Gesundheitsdaten in der eigenen Hand. (Symbolbild: PD)

2020 wurde die erste Digitale Gesundheitsanwendung in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen. Damit übernahm Deutschland eine internationale Vorreiterrolle in der Vergütung von DiGAs. Das Deutsche DiGA-Verzeichnis wurde seitdem laufend erweitert und umfasst nun 64 DiGAs (Stand Juli 2024). Abgedeckt werden Anwendungsgebiete von der Physiotherapie über die Psychotherapie bis hin zur Onkologie. Am häufigsten eingesetzt wird (Stand September 2023) die DiGA zanadio, die Patient:innen durch eine Veränderung der Gewohnheiten in den Bereichen Bewegung und Ernährung hilft, langfristig das Gewicht zu reduzieren.
Ein Zwischenfazit aus Deutschland und meine Takeaways zur grossen Herausforderung der Integration von DiGAs in den Versorgungsprozess:

Vorsichtig positives Zwischenfazit aus Deutschland
Das Zwischenfazit nach vier Jahren fällt vorsichtig positiv aus: So spricht die Fachgruppe «Digital Health» der Gesellschaft für Informatik e.V. von einem «nachgewiesenem Versorgungsnutzen», beschreibt DiGAs aber auch noch als «Nischenprodukt». Die Anzahl Verordnungen steigt seit 2020 kontinuierlich, wenn auch deutlich unter den ursprünglichen Erwartungen. Stand September 2023 wurden DiGAs zirka 374’000 Mal in Anspruch genommen. 
Gesetzlich Versicherte können DiGAs über zwei Wege erhalten: Sie können sich eine DiGA von Ärzt:innen per Rezept verordnen lassen oder alternativ direkt bei der Krankenkasse beantragen. Dass die grosse Mehrheit der DiGAs (89%) von Ärzt:innen verordnet wird, unterstreicht aus meiner Sicht die wichtige Rolle der Ärzteschaft in der weiteren Verbreitung der DiGAs.
Auch den Mythos, dass nur jüngere Patient:innen Gesundheitsapps nutzen, entkräften die Daten: Die höchste Inanspruchnahme ist in den Altersgruppen von 50 bis 60 Jahren zu beobachten, aber auch in den Altersgruppen von 60 bis 70 Jahren werden DiGAs eingesetzt: Nicht zuletzt bleibt ein grosser Diskussionspunkt in puncto DiGAs der Kosten-Nutzen-Nachweis. Ein Blick auf die Leistungsausgaben offenbart, dass im Zeitraum von September 2020 bis September 2023 113 Mio. EUR durch die Krankenkassen getragen wurden. Der GKV-Spitzenverband der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen in Deutschland kritisiert, dass die Krankenkassen Kosten von DiGAs mit noch fehlendem Nutzennachweis übernehmen müssen und die erstellenden Unternehmen im ersten Jahr beliebig hohe Preise festlegen dürfen. Ein Vorgehen, das für die Schweiz sicherlich genauer zu prüfen wäre.

Herausforderung «Integration in die Versorgungsprozesse»
Auf jedem neuen Weg sind Stolpersteine und andere Herausforderungen zu finden. Beim Thema DiGAs ist es die «Integration in die Versorgungsprozesse», die sich als zentral und aber gleichzeitig komplex herausstellt. Der GKV-Spitzenverband stellt fest, dass «DiGAs kaum in bestehende Versorgungspfade eingebettet» seien. 
Einerseits liegt dies an der eingeschränkten Interoperabilität der DiGAs mit anderen Systemen wie Praxisinformationssystemen. Auch wenn einige DiGA-Anbieter zwar einen PDF-Export von Daten aus der App ermöglichen, wird so noch lange nicht sichergestellt, dass diese Informationen für das Behandlungsteam der Patient:innen übersichtlich und verständlich zur Verfügung stehen. Den DiGAs fehlen zudem oft indikationsunabhängige Funktionalitäten, die für die Integration in den Versorgungsprozess eine wichtige Rolle spielen: Möglichkeiten zum Führen von Medikationslisten, zum Bestellen von Medikamenten, zum einfachen Austausch mit dem Behandlungsteam oder zur Erfassung von Patient Reported Outcomes. Diese fehlenden Anknüpfungspunkte führen dazu, dass DiGAs heute noch stark als isolierte anstelle von integrierten Therapien gedacht werden.
Anderseits spielt die eingeschränkte Akzeptanz der Ärzteschaft eine Rolle. Es ist davon auszugehen, dass sowohl die mangelnde klinische Evidenz bei vorläufig aufgenommenen DiGAs wie auch Vorbehalte gegenüber digitaler Lösungen Hemmnisse für die Verschreibung darstellen. Nicht zu vergessen ist zudem die Vergütungsthematik. Ärzt:innen müssen sich mit den entsprechenden DiGAs auseinandersetzen, um Patient:innen aufklären und bei Bedarf Unterstützung leisten zu können. Die Vergütung für eine Erstverordnung stellt dafür nur einen sehr geringen finanziellen Anreiz dar.

Fazit für die Schweiz
Frankreich und einige weitere Länder lassen sich in puncto «Vergütung von DiGAs» aktuell von Deutschland inspirieren. In der Schweiz argumentiert die Allianz Digitale Transformation im Gesundheitswesen, dass die bestehenden Tarifsysteme nur begrenzt für eine «adäquate Vergütung des breiten Spektrums neuer digitaler Gesundheitsanwendungen» geeignet sind. Die überwiegende Anzahl digitaler Anwendungen sei nicht über bestehende Tarifsysteme abbildbar, müssten in mehreren Tarifen abgebildet werden und der Prozess sei zu lange, um mit den Innovationszyklen mithalten zu können.
Wenn wir den Einsatz von digitalen Innovationen zur Behandlung von Erkrankungen in der Schweiz fördern möchten, wäre es also höchste Zeit, die tariflichen Grundlagen dafür zu legen. Um das maximale Potenzial auszuschöpfen, sollte die Integration der DiGAs in den Versorgungsprozess dabei von Anfang an mitgedacht und die Ärzteschaft mit auf den Weg genommen werden.