Rückgrat bewahren

Fast alle Menschen werden irgendwann im Laufe ihres Lebens mit Rückenbeschwerden konfrontiert, auch Sportler. In den allermeisten Fällen können die Beschwerden aber mit einer gezielten Kräftigung der Rückenmuskulatur beseitigt werden. Eine Operation ist nur sehr selten nötig.

Dr. med. Ulrich Kraus, Facharzt für Neurochirurgie und Spezialist für Wirbelsäulenchirurgie

02. Juli 2024

Rücken
In den allermeisten Fällen reicht eine konservative Therapie, um die Beschwerden in den Griff zu bekommen. (Foto: Pexels)

Manchmal reicht bereits eine klitzekleine Bewegung. Das Aufheben eines Papiers, das Verstauen einer Tasche auf dem Rücksitz, das Einfädeln eines Hosengurts – und schon ist es passiert. Wie ein Blitz schiesst ein stechender Schmerz in den Rücken und jede noch so kleine Bewegung wird zur Qual.
Rückenprobleme sind vor allem in der westlichen Gesellschaft wohl in den letzten Jahren nicht weniger häufig geworden. Denn wir bewegen uns immer weniger und wir werden immer älter. Doch wie sollen wir bei abrupten Rückenbeschwerden reagieren? Wie können wir die Schmerzen einordnen, akute von chronischen Beschwerden unterscheiden, wie dagegen vorgehen und vor allem, wie sie künftig vermeiden?

Rückenoperation praktisch nie nötig
Ein Hexenschuss vergeht nach wenigen Tagen wieder, ein Bandscheibenvorfall hingegen ist schon hartnäckiger. Doch egal ob Hexenschuss, Ischias oder Bandscheibe – ich empfehle zuerst einmal Schonung, Geduld und das Eindämmen der Schmerzen mit Medikamenten. Solange nur der Rücken betroffen ist, muss man einfach abwarten und die Schmerzen lindern.

In den allermeisten Fällen reicht eine konservative Therapie, um die Beschwerden in den Griff zu bekommen. Ich rate, auch bei akuten Schmerzen keine Panik aufkommen zu lassen. Kurzfristig ist eine Operation praktisch gar nie und langfristig nur sehr selten notwendig. Sofort hellhörig werden wir nur, wenn das Wasserlösen und der Stuhlgang nicht mehr funktionieren oder Lähmungserscheinungen unterhalb der Knie auftreten. Sonst rate ich aber unbedingt, zuerst konservativ zu behandeln mit sanfter Bewegung und dem gezielten Aufbau der Rumpf- und Rückenmuskulatur. Und erst frühestens nach acht Wochen sollte ein MRI angefertigt werden, wenn bis dahin die Schmerzen nicht schon deutlich abgeklungen sind.

Ist im Extremfall dennoch eine Operation angezeigt, dauert es drei Monate, bis der Patient wieder richtig belasten und im Falle eines Sportlers an Wettkämpfe denken kann. Die Erfolgsquote ist dabei erfahrungsgemäss hoch, in Zahlen: 40% sind nach einer Operation komplett beschwerdefrei, 40% sehr zufrieden, 10% zufrieden und 10% unzufrieden. Und nach einer Operation besteht beim operierten Patienten nach drei Monaten das gleiche Risiko auf erneute Beschwerden wie bei nichtoperierten.

Muskulatur ist entscheidend
Aber eben, ein chirurgischer Eingriff ist nur in absoluten Ausnahmefällen wirklich notwendig und die Erfolgsquote auch bei einer konservativen Behandlung hoch. Denn fast immer liegt die Ursache von Rückenbeschwerden und auch eines Bandscheibenvorfalls in einer schwachen Rückenmuskulatur. Fitte und sehr sportliche Menschen sehen wir nur sehr selten als Patienten, Übergewichtige, Raucher und Inaktive hingegen öfters.

Die Wirbelsäule besteht aus 24 Wirbeln, die über 23 Bandscheiben beweglich verbunden sind, sowie 8 bis 10 Wirbeln, die zu Kreuz- und Steissbein verwachsen sind. Da die Wirbelsäule fast das gesamte Körpergewicht tragen muss, ist sie unten etwas dicker als oben und für eine möglichst gute Dämpfung mehrfach gebogen (Doppel-S). Die Bandscheiben dienen als Abstandshalter und Dämpfungselemente. Sie verlieren mit dem Alter an Flüssigkeitsgehalt und werden dadurch weniger elastisch. Wird eine Bandscheibe übermässig belastet und in den Wirbelkanal gedrückt, dann kommen die Nerven unter Druck und verursachen entsprechend Schmerzen – man spricht von einem Bandscheibenvorfall.

Damit es nicht so weit kommt, sollte die Muskulatur ins Spiel kommen, die eine (Alters-)Schwäche der Bandscheiben zu einem grossen Teil kompensieren kann. Stabilisiert wird die Wirbelsäule vor allem durch die sogenannte autochthone Rückenmuskulatur, die sich beidseitig entlang der Wirbelsäule erstreckt. Man muss sich das wie einen länglichen Luftballon vorstellen. Wenn keine Luft drin ist, bewirkt der Ballon nichts und liegt einfach so da, wenn er hingegen mit Luft gefüllt ist, schützt und stabilisiert er die Wirbelsäule dermassen wirkungsvoll, dass kaum Beschwerden auftreten. Die Luft im Luftballon entspricht starken Muskeln.

Bewegung ist wesentlich
Entsprechend einleuchtend ist es, dass sportliches Training bei Rückenschmerzen und das Vorbeugen derselben eine entscheidende Rolle spielen. An Blut, Schweiss und Tränen kommt man leider nicht vorbei. Trainieren, bewegen und mit dem Rauchen aufhören sind Vorsätze, die man langfristig umsetzen sollte, wenn man seiner Wirbelsäule Gutes tun will. Und das gilt umso mehr, je älter man wird. Vor allem das Krafttraining spielt eine entscheidende Rolle.

Im Wiederaufbau empfehle ich neben gezieltem Krafttraining neutrale Sportarten wie Radfahren, Schwimmen oder Walking. Auch Laufen ist möglich, aber doch tendenziell etwas weniger geeignet. Vermeiden sollte man Stop-and-Go-Sportarten, und vor allem solche, die noch Drehbewegungen beinhalten wie Fussball, Squash oder auch Badminton.

Geduld und Motivation
Mindestens so wichtig auf dem Weg zu Beschwerdefreiheit sind die Eigenmotivation und Geduld. Selbst bei einer leichten Lähmung hat eine konservative Therapie die gleichen Erfolgsaussichten wie eine Operation, wenn der Patient gewillt ist, an sich zu arbeiten und er die nötige Geduld aufbringt, auch wenn es nur in kleinen Schritten vorwärts geht. Meine Erfahrung zeigt: Mit Motivation und Wille können Rückenpatienten enorm viel erreichen.

Bei vielen Sportlern ist Geduld allerdings nicht die Tugend Nummer 1, denn sie wollen so schnell wie möglich wieder trainieren. Das erlebe ich auch in meiner Praxis. Da müssen wir Ärzte manchmal wie Psychologen vorgehen und den Patienten den Sachverhalt erklären. Wir müssen ihnen verständlich machen, dass die Zeit bei Bandscheibenproblemen ein entscheidender Faktor ist. Sportler müssen realisieren, dass es gut kommt, aber nur dann, wenn sie genügend Geduld aufbringen. Ist die Beschwerdefreiheit wieder erlangt, steht dem gewohnten Sporttreiben nichts mehr im Weg, solange die kräftigenden Begleitmassnahmen nicht plötzlich wieder über Bord geworfen werden, sondern fix ins Bewegungsprogramm integriert sind.