Das Ökosystem-Rezept – wie Unternehmen im Schweizer Gesundheitswesen gemeinsam mehr erreichen können

Weltweit sind weniger als 15% der Business-Ökosysteme langfristig erfolgreich. Warum es sich für das Schweizer Gesundheitswesen trotzdem lohnt und welche vier kritischen Erfolgsfaktoren aus meiner Sicht zu berücksichtigen sind.

Julia Biller

27. Dezember 2023

Gesundheitsökosystem
Erfolgreich umgesetzt hat das Rezept Ökosystem im Schweizer Gesundheitswesen grosses Potenzial. (Foto: PD)

Business-Ökosysteme bestehen aus verschiedenen Unternehmen, die interagieren, um gemeinsam einen Service bereitzustellen, den jedes Unternehmen für sich genommen alleine nicht anbieten könnte. Im Zentrum stehen die Kund:innenbedürfnisse. So verspricht Amazon eine nahezu unbegrenzte Produktauswahl, die durch eine Vielzahl an Verkäufer:innen auf der E-Commerce-Plattform ermöglicht wird. Als Basis für die Interaktionen im Business-Ökosystem dient oft eine digitale Plattform – zum Beispiel bei Uber, AirBnb und auch beim Gesundheitsökosystem Compassana. Erfolgreich umgesetzt hat das Rezept Ökosystem im Schweizer Gesundheitswesen grosses Potenzial.

Die Vision: Integrierte Versorgung, einfacher Zugang und neue Angebote
Die Vorteile eines Gesundheitsökosystems wie Compassana lassen sich am fiktiven Beispiel von Andreas L., 57 Jahre, veranschaulichen. Vor zwei Monaten wurde bei ihm Diabetes Typ 2 festgestellt. Sein Hausarzt hat ihm Medikamente, Ernährungsberatung und Physiotherapie für mehr Bewegung verordnet. Mit der Umstellung tut er sich schwer: Ihm fehlt der Überblick über seinen Behandlungsplan und er verbringt viel Zeit mit der Koordination von Terminen und dem Medikationsmanagement.  Andreas L. kann mit seinem Gesundheitsbedürfnis ganz einfach eine App konsultieren. Er sieht dort den mit seinem Hausarzt vereinbarten Behandlungsplan und seine Gesundheitsdaten und -dokumente. Diese kann er mit den verschiedenen Gesundheitsfachpersonen teilen. Seine Termine bucht er über die App. Das Rezept für die Medikamente erhält er digital und löst es bei der Partner-Apotheke um die Ecke ein. Sollte er einmal eine Rückfrage haben, kann er jederzeit bei einer Gesundheitsfachperson anrufen – und sich sicher sein, dass sein Gegenüber alle notwendigen Daten zu seinem Gesundheitszustand hat. Nicht zuletzt sieht er in der App, dass seine Zusatzversicherung einen innovativen digitalen Service abdeckt, der ihn mit seinen Blutzuckerwerten unterstützt. Diesen nimmt er gerne in Anspruch.
Das Beispiel zeigt, wie die Zusammenarbeit verschiedener Partner (Hausärzt:innen, Apotheken, Telemedizin, Versicherungen und Digital-Health-Anbieter) die Patient Journey signifikant verbessern kann. Dies ist aber nur möglich, wenn die Partner:innen sich in einem Ökosystem zusammenschliessen – denn für sich allein hätte keiner so auf die Bedürfnisse von Andreas L. eingehen können.

Von der Vision zur Realität
Trotz des grossen erwarteten Mehrwerts ist der Weg von der Vision zur Realität steinig. Branchenübergreifend kommen auf jedes Ökosystem-Erfolgsmodell wie Amazon mindestens acht andere, die gar nicht erst abheben oder sich mittelfristig nicht durchsetzen. Aus meiner Erfahrung unterscheiden sich Strategie-Überlegungen im Ökosystem signifikant von jenen für Einzelunternehmen: Vier Erfolgskriterien gilt es zu berücksichtigen:

Erfolgskriterium 1: Im Ökosystem gibt es nur Gewinner:innen    
Ökosysteme können nur erfolgreich sein, wenn jeder einzelne Ökosystempartner von der Teilnahme im Ökosystem profitiert. Deswegen sollte der Mehrwert für jeden einzelnen Partner besonders klar herausgearbeitet und regelmässig überprüft werden. Tarifstrukturen im Schweizer Gesundheitswesen erschweren zum Teil versorgungssektorübergreifende gemeinsame Ziele. Für ein erfolgreiches Ökosystem muss die gemeinsame Vision geklärt sein. Die Anreizsysteme im Ökosystem müssen so ausgestaltet werden, dass sie für alle Partner:innen einen Mehrwert bieten.

Erfolgskriterium 2: Scale fast
Sobald Vision und Mehrwert für alle Partner:innen klar sind, sollte das Ökosystem rasch erweitert werden. Gemäss einer MIT Sloan Management Review-Studie erreichen 80% der erfolgreichen Ökosysteme innerhalb der ersten fünf Jahre einen Marktanteil von mindestens 50%. Ökosysteme, die in den ersten fünf Jahren nicht rasch und signifikant wuchsen, waren selten langfristig erfolgreich. Beim Scale-up müssen Netzwerk-Effekte berücksichtigt werden. Bei Compassana bedeutet dies zum Beispiel, dass Patient:innen und Gesundheitsfachpersonen in einem ausgewogenen Verhältnis auf die Plattform geholt werden müssen. Hinzu kommt, dass Patient:innen-Ströme stark regional sind, was wiederum bedeutet, dass die regionale Netzwerk-Dichte berücksichtigt werden muss: Als Patient:in im Thurgau bietet mir die Ärztin in der Stadt Genf wenig Mehrwert.

Erfolgskriterium 3: die richtigen KPI
Ich werde oft gefragt, wie viele Nutzer die Compassana-App hat. Aus meiner Sicht die falsche Frage – denn ob ein Ökosystem erfolgreich oder nicht ist, sollte an der Anzahl der über das Ökosystem befähigten Transaktionen gemessen werden. Erfolgreiche Transaktionen (wie im Falle von Uber die Vernetzung eines verfügbaren Fahrers mit einer Passagierin) machen den Mehrwert für die Teilnehmenden aus. Nutzer:innen lassen sich kurzfristig kaufen; erfolgreiche Transaktionen mit Mehrwert nicht. Bei der Fortschritts-Überprüfung im Ökosystemaufbau sollte immer gelten: Augen auf die richtigen KPI.

Erfolgskriterium 4: das entscheidende Ökosystem-Mindset
Wie ein Artikel der Harvard Business Review ausführt wurden Strategien in den letzten vierzig Jahren mehrheitlich auf der «moat-based» Logik aufgebaut (auf Deutsch: Graben). Unternehmen versuchten über die eigene Positionierung oder den Aufbau wertvoller Ressourcen einen möglichst unüberwindbaren Graben um ihre eigenen Unternehmen zu bauen, mit dem Ziel diese von der Konkurrenz abzugrenzen. Ökosystem-Strategien basieren auf einer neuen Logik: Transaktionen im Ökosystem sollen maximiert werden, Ressourcen werden dazu geteilt. Bei Compassana investieren Partner zum Beispiel in Standards und Funktionalitäten, die auch anderen Ökosystemteilnehmenden zur Verfügung stehen. Damit dies funktionieren kann, benötigen die Teams ein Ökosystem-Mindset.

Fazit
Ökosysteme haben das Potenzial, integrierte Versorgung und Innovation voranzutreiben. Beim Aufbau des Ökosystems muss der Mehrwert für alle Teilnehmenden klar sein, es muss rasch und mit Augen auf den richtigen KPI skaliert werden und das Ökosystem-Mindset sollte gelebt werden. Dann besteht auch eine reale Chance, zu den erfolgreichen 15% zu gehören.